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Der Zwang, sich kratzen zu müssen

Angi (w, 20) aus Berlin: Schönen guten Abend,

so gut wie jeden Tag habe ich den Zwang, mir jeden kleinsten Pickel bzw. jede Unreinheit im Gesicht ausdrücken oder wegkratzen zu müssen. Genauso muss ich mir stundenlang die Augen reiben bis diese komplett rot sind. Das geht schon seit Jahren so und ist mitlerweile ein abendliches Ritual, was mich langsam verzweifeln lässt.

Seit einiger Zeit mache ich schon eine Therapie wegen meiner familiären Geschichte und so weiter. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es sich überhaupt nicht bessert und gerade in den letzten Tagen geht es mir nicht sonderlich gut und ich versuche alles, um diesen Zwängen nicht nachgehen zu müssen, weil ich selbst am nächsten Tag noch total verquollen deswegen bin. Ich bin langsam wirklich am verzweifeln, weil es immer schlimmer wird, obwohl ich schon Trimipramin nehme. Bitte helfen Sie mir!

Antwort vom Psychomeda Therapeuten-Team:

Liebe Angi,

vielen Dank für die offene Beschreibung ihrer augenblicklichen Situation. Es ist deutlich herauszuhören, dass Sie unter ihren Handlungen leiden und ich kann mir gut vorstellen, dass die von Ihnen beschriebenen Rituale nicht nur schmerzhaft sind, sondern langfristig unter Umständen sogar mit gesundheitlichen Risiken einhergehen. Sie befinden sich bereits in Therapie, und Sie verknüpfen in Ihrer Zuschrift Ihre Symptomatik mit Ihrer Familiengeschichte. Dass Sie das Gefühl haben, trotzdem nicht weiterzukommen, lässt sich wahrscheinlich am besten mit dem Begriff „therapeutischer Widerstand“ beschreiben. Wenn wir davon ausgehen, dass es unbewusste Mechanismen sind, die zu ihrem Verhalten führen, dann müssen wir auch davon ausgehen, dass genau dieses Unbewusste kein großes Interesse daran hat, sich bewusst machen zu lassen. Es ist deswegen die Aufgabe des Therapeuten, diese Widerstände zu erkennen und sie aufzulösen; eine Methode, die für den analytischen und den humanistischen Therapeuten zum Repertoire gehört.

Abgesehen von der Zuordnung Ihrer Symptomatik in den Bereich der Zwangsstörungen lohnt es sich, einmal genauer darüber nachzudenken, was genau passiert: Sie kratzen sich Unreinheiten und Pickel auf. Vordergründig könnten wir annehmen das es „einfach“ etwas mit Sauberkeit und Hygiene zu tun haben muss. Analytisch betrachtet zeigt sich allerdings ihr Wunsch, „unter die Oberfläche“ zu gelangen. Ich könnte also annehmen, dass es bei Ihnen darum geht, Verborgenes entdecken zu wollen, „tiefer“ zu gehen. Sprichwörtlich sagt man auch „das Innerste nach außen kehren“. Indem Sie sich die Augen reiben, lassen Sie Blut hervortreten, also auch wieder ein Vorgang, der eigentlich Verborgenes sichtbar werden lässt.

Sie schreiben leider nichts über die Art der Therapie, die Sie zurzeit absolvieren. Das Antidepressivum (Trimipramin), das Sie einnehmen, wirkt natürlich – wie alle Psychopharmaka – nur „symptomatisch“, d.h. es führt im besten Falle zu einer Entspannung der Symptomatik, aber natürlich in keiner Art und Weise zu einer Klärung der darunter liegenden seelischen Mechanismen. Verhaltenspsychologische Therapien, die bei diesem Beschwerdebild häufig angewandt werden, setzen ebenfalls in erster Linie – deswegen werden sie auch so genannt – am Verhalten an, und beleuchten weniger die wahrscheinlich vorliegenden Wünsche, Ängste und Fantasien. In analytischen bzw. tiefenpsychologisch orientierten oder auch humanistischen Psychotherapien steht der Beziehungsaspekt zwischen Klient und Therapeut deutlich stärker im Fokus. Dort wird versucht, den Sinngehalt der jeweiligen Symptomatik zu erhellen, was in der Folge die Dynamik, d.h. die Dringlichkeit des Verhaltens in aller Regel sich abschwächen lässt.

Ihren Schlussappell, Ihnen zu helfen, kann ich – ohne Sie zu sehen und Sie zu kennen – natürlich leider nicht erfüllen! Sie werden sich, so hart es klingt, leider selbst helfen müssen, in jedem Fall sollten Sie mit Ihrem augenblicklichen Therapeuten noch einmal ernsthaft über Ihre Medikation sprechen und auch über den angewandten therapeutischen Ansatz bzw. darüber, ob andere psychotherapeutische Ansätze (s. o.) nicht vielleicht sinnvoller sein könnten. Im weitesten Sinne zählt die von Ihnen beschriebene Symptomatik nämlich nicht nur zu den Zwangsstörungen, sondern sollte im Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten allgemein betrachtet werden, und dieser Bereich tritt weit überwiegend bei Mädchen und jungen Frauen auf, die an der „Schwelle zum Frauwerden“ stehen, womit wir vermuten können, dass mit dieser Symptomatik die seelische Dynamik eines ganz bestimmten Lebensabschnitt verbunden ist. Letzten Endes stellt sich damit für Sie die Frage, ob Sie ihr beschriebenes Verhalten einfach nur „wegmachen“ wollen, oder ob Sie bereit sind, Sinn und Bedeutung Ihres Verhaltens verstehen zu wollen, auch, wenn dies einen – in diesem Falle zusätzlichen – seelischen Schmerz bedeuten kann.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

Holger Nikolai
Heilpraktiker f. Psychotherapie
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